Die Forderung ist nicht neu, die "Materialität von Diskursen" zu berücksichtigen. Sie wurde mittlerweile in zahlreichen historischen und sozialwissenschaftlichen Studien aufgenommen und auf mehr oder weniger gelungene Weise umgesetzt. Letztlich allerdings geht es in den meistens dieser Arbeiten hauptsächlich um bestimmte Gegenstandsbereiche, welche die Fragestellungen, die Untersuchungsmaterialien und die Darstellung der Ergebnisse bestimmen. Im Zentrum meines Buches dagegen stehen nicht die in den Quellen vorkommenden Themen, sondern ein ganzes Archiv – die Korrespondenzen der schweizerischen Sexberaterin Marta Emmenegger alias "Liebe Marta", die zwischen 1980 und 1995 fast täglich eine Kolumne in der Boulevard-Tageszeitung "Blick" veröffentlichte. Es geht folglich nicht nur um historische Veränderungen innerhalb eines Gegenstandsbereichs, etwa der Diskurse über "Homosexualität", "Orgasmus" oder "Liebe" in den Zeiten von Aids und VHS-Pornographie, sondern auch um den Ort, an dem das Sprechen und Schreiben über diesen Bereich – und damit dieser selbst – (mit) konstituiert wurde. Die Art und Weise, wie mündliche oder schriftliche Aussagen geäußert werden, hängt in hohem Maße vom Medium und von den Strukturen der Kommunikation ab. Im Brief an eine Sex-Ratgeberin verschränken sich folglich die behandelten Themen, das Medium des (Leser-)Briefes und die spezifische Form der Beratungskommunikation. Die forschungsleitende Frage lautete deshalb: Worüber und – vor allem – wie genau schrieben die Leserinnen und Leser eines populäres Mediums aus dem Südwesten des deutschsprachigen Raums in den achtziger und frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nachdem sie durch dessen Ratgeberkolumne aufgefordert worden waren, über ihre Fragen, Ängste und Schwierigkeiten im thematischen Bereich von "Liebe, Sex und Partnerschaft" zu berichten? Es zeigte sich, dass der Sex hier in erster Linie als "Problem" beschrieben wurde, das gelöst werden muss und kann. In den 1980er Jahren scheint es für breite Bevölkerungsschichten selbstverständlich geworden zu sein, sich selbst – den Alltag, die Beziehungen zu sich und zu anderen – in diesem Modus zu beschreiben. Mit anderen Worten: Sie hatten gelernt, sich zu "problematisieren" und nicht etwa grandios an den "Prüfungen des Lebens" zu scheitern. Das Lösen eines Problems bedeutete hier in erster Linie Arbeit am Selbst. Wo soziale Beziehungen verhandelt wurden, ging es um Prozesse der Aushandlung im Einzelfall. Die ideale Beziehung war die partnerschaftlich- romantisch organisierte Paarbeziehung und das gilt auch und gerade für die sexuelle Beziehung. Eine Neuorganisation gesellschaftlicher Verhältnisse hingegen, wie es noch zehn Jahre zuvor in den Bemühungen um eine Politisierung der Sexualität während der "Sexuellen Revolution" gefordert wurde, stand hier kaum mehr zur Debatte. Damit erweist sich die Sexberatung der "Lieben Marta" als weitgehend kongruent mit jenen seit der Nachkriegszeit etablierten therapeutischen Ansätzen, die anstelle der psychoanalytischen Suche nach der "Wahrheit" des Begehrens in der individuellen Geschichte auf die technische Lösbarkeit von Problemen in der Gegenwart setzten. Die verhaltenstherapeutisch orientierte Sexualtherapie in der Nachfolge von William H. Masters und Virginia E. Johnson war denn auch eine der zentralen Referenzen der Ratgeberin Marta Emmenegger.
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